Nur langsam verstreicht die Zeit und recht ist mir das. Sehr recht, denn ein wunderschöner Pfad führt mich über den Kahlenberg zurück in die City. Trotz strahlenden Sonnenscheins breitet sich – in leichten Dunst gehüllt – die Stadt in ihrer vollen Größe vor mir aus. Nur einige gold- und kupferbestückte Dächer reflektieren die gebrochenen Strahlen. Erwecken den Eindruck sanft schimmernder Sterne, die den bewölkten Nachthimmel durchdringen. Hier, von oben betrachtet, zeigt Wien ihre Weite. Ihre gewaltige Dimension. Eine Weltstadt inmitten eines kleinen Landes. Groß geworden in einer anderen Zeit. Eine Zeit, die sie noch immer, still und heimlich, regiert. Auch wenn einige gewaltige Glas-Stahlbeton-Bauten das Donauufer dominieren, scheinen sie nur Kulissen zu sein, positioniert, um ein wenig »Moderne« zu simulieren. Denn die Seele von Wien würde es niemals zulassen, sich ihre Ruhe durch radikale Innovationen zerstören zu lassen.
Dazu ist sie zu sehr Diplomatin. Ja, als sie noch jung war, konnte sie über die eine oder andere Neuerung hinwegblicken – mit einem majestätischen Lächeln in Richtung Nachbarstadt – denn waren damals doch die meisten Ideen aus den Köpfen ihrer Kinder entsprungen. Aber sie hat gelernt, dass jede Form von Radikalismus sie mehr und mehr zerstört. Und darum will sie nicht weiter laut leiden, lieber in Melancholie schwelgen, leise raunzen – wie es sich für eine Dame gehört – über all die Grausamkeit, die ihre Seele über Jahrhunderte hinweg erfahren musste. Ich habe bereits die mit kleinen Villen und Heurigen besiedelte Vorstadt passiert und bewege mich in Richtung Zentrum. Die Häuser werden mächtiger, ornamentreicher. Die Aura der Jahrhundertwende haftet spürbar an ihren dicken Mauern. Nur der eine oder andere schmucklose Neubau versteckt sich zwischen ihren Reihen – unauffällig, um kein Aufsehen zu erregen. Denn sie wissen, dass sie nur gebaut wurden, um einen Mangel zu begleichen, nicht weil die Stadt das so wollte. Sie hätte ihre Kinder lieber in kaiserlichen Bauten gesehen, denn zu enge Wohnungen sind der Kreativität nicht förderlich, und Wien liebt die Kunst und ihre Schöpfer. Die Liebe geht so weit, dass die Seele der Stadt mit diesen Menschen verschmelzen möchte. Eher verschlingt und begräbt sie diese zarten Kinder tief unter ihrer Erde als das sie zusehen müsste, wie eines von ihnen fortwandert. Ich lehne bereits an den Mauern des Steffels, als vor mir eine weiß gepuderte, ältere, gut bestückte Dame im üppigen Reifrock vorübergeht und leise vor sich hin summt: » Wien, Wien nur du allein,...« Autor: Jine Knapp |
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