Ernst Gehmacher ist überzeugt: gehen macht glücklich! Der 1928 in Salzburg geborene Sozialwissenschaftler erzählt von Sozialkapital und von Liebe und davon, wie er mit seiner Frau fremde Gegenden in der eigenen Stadt auskundschaftet. Dabei begegnet er Menschen und lernt sie kennen. Sozialkapital entsteht, wenn Menschen einander begegnen und gemeinsamen Interessen nachgehen.
DIE SOZIALE SEITE DES GEHENS Zu Fuß Gehen macht gesund. Es ist die Urform menschlicher Fortbewegung – ja, die Entwicklung des Menschen schulden wir dem aufrechten Gang, der sich durch einen Klimawandel und der damit verbundene Austrocknung von Urwald zur Savanne in Afrika ergeben hat und der die Hände freimachte fürs Sammeln und den Werkzeuggebrauch. Auf allen vieren, auf urtümliche Weise, bewegen wir uns nur mehr beim Schwimmen und Klettern – vielleicht ist das sogar noch gesünder. Aber zweifellos können wir das Gehen und Laufen besser. Die nachhaltige präventivmedizinische Wirkung des Gehens bedarf kaum eines Plädoyers, an die glaubt der moderne Mensch schon weitgehend. Doch an der Praxis fehlt es weit. Da klafft zwischen Glauben und Praxis die berüchtigte Wort-Tat-Lücke, im Fachjargon „belief-behaviour-gap“. Aber immer mehr Gesundheitsbewusste in unsrer Fahrzeug-Kultur wagen den Sprung über diese Kluft und werden wieder natürliche Fußgänger. Dabei helfen zwei Einsichten in gut belegte wissenschaftliche Wahrheiten, die aber in unsrer Konsumgesellschaft schwer zu verkaufen sind: Gehen macht glücklich, ist also ein Genussmittel – Gehen fördert Gemeinschaft, bringt Sozialkapital. VIEL ZUWENIG ERKANNT, IST ABER DER SOZIALE GEWINN DURCH DAS GEHEN. Selbst wer allein geht, hat viele Chancen, unterwegs Bekannte zu treffen, mit anderen Fußgängern in Kontakt zu kommen, Menschen zu beobachten. Und mit jemanden ein Stück zu Fuß zurückzulegen oder eine Wanderung zu machen, bietet Gelegenheit, einander näher zu kommen. Das ist alles noch weit weg von den intensiven Gemeinschaftserlebnissen bei einer längeren Bergtour oder einer Weitwanderung. Doch in der Summe verbinden alltägliche gemeinsame Wege – etwa mit Kolleginnen nach der Arbeit oder mit Kindern zur Schule – noch mehr. Die Sozialkapital-Theorie schreibt die seelischen Bindungen an einen Bekanntenkreis den biologischen Instinkten des Herdentriebs zu. Das leuchtet ein. Denn wenn eine Gruppe eine mehrtägige Tour unternimmt, bilden sich bald nach Begabung und Lust Rollen heraus – die Wegfinder und Kartenleser, die Wirtshauskundigen und die mit der Rucksack-Apotheke, die Geschichtenerzähler und die Sänger. Die Gemeinschaft schließt gerade auch die Schwächeren ein, die Fußmaroden und die Erschöpften – und gibt den in Rang und Stellung Geringeren oft die Chance, sich als Helfende und Führende zu bewähren. Schließlich wussten die Religionen seit jeher um die große Macht des gemeinsamen Gehens, wenn es mit einer ideellen Glaubensgemeinschaft und spiritueller Symbolik verbunden ist. Wallfahrten gehören zu den stärksten Erlebnissen der großen Gefühle von transzendenter Eingeschlossenheit in ein höheres Ganzes. Ob das Rom, Jerusalem oder Mekka ist, das zu Fuß erwandert wurde, ob der Jakobsweg oder der Berg Kailas – neben den vielen geringeren Wallfahrtsorten - , immer stellen sie Höhepunkte religiösen Erlebens dar, wenn sie zu Fuß erwandert werden. Und immer schließen sie das Gemeinschaftserlebnis mit ein. Dafür hat die neue Sozialkapitaltheorie wiederum eine Erklärung aus der Urgeschichte des Lebens; sie leitet diese Makro-Ebene sozialen Erlebens von den Urinstinkten des Schwarmtriebs ab, wie er sich in den gewaltigen Bewegungs-Gemeinschaften der Fisch- und Vogelschwärme äußert. Die Gemeinsamkeit der Bewegung wird von einer überindividuellen Energie übereinstimmender Ausrichtung geleitet, die sowohl in der Geschlossenheit wie der Intensität der Verbundenheit etwas Überwältigendes an sich hat. Autor: Ernst Gehmacher |
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